Auf einer Landstraße mit Baumbestand fahre ich kurz vor Sonnenaufgang der Dämmerung entgegen. Auf den Feldern und Wiesen stehen anderthalb Meter hohe Nebelfetzen, aber ich habe eine Sichtweite von einigen Kilometern. Im Autoradio läuft Martin Barres Instrumentalversion von „Fires at Midnight“ und ich beginne zu singen. Obwohl ich das Lied zehn Jahre (oder mehr) nicht gespielt habe funktioniert mein Gedächtnis auf Anhieb.
Es war für mich einer jener perfekten Augenblicke, die hoffentlich jeder auf die eine oder andere Art erlebt und in der hektischen Welt wahrnimmt. Neben Wetter und Landschaft war Martin Barres aktuelle CD „Away with words“ verantwortlich für meinen guten Start in den Tag. Dies ist ein guter Grund, die CD hier zu vorzustellen, zumal sie aus meiner Sicht perfekt als Begleitmusik am Teleskop funktioniert!
Martin Barre ist seit 1968 der Gitarrist von Jethro Tull und für die gitarristischen Teile einiger Meilensteine der Rockmusik verantwortlich, beispielsweise im Song Aqualung, um nur mal einen herauszugreifen. Da Jethro Tull im Augenblick pausiert (nach Aussage auf Barres Website), nutzt der Meister die Gelegenheit, selbst Musik einzuspielen. Hierbei komponiert er selbst, bedient sich jedoch auf „Away with words“ dem sehr umfangreichen und durchweg qualitativ hochwertigen Katalog von Jethro Tull. Diesen Liedern möchte er mit eigenen Kompositionen einen Rahmen geben. Dies ist sinnvoll, da das Album fast ausschließlich ohne Gesang auskommt und die Stücke deshalb auf andere Weise einen Spannungsbogen benötigen. Zwar kenne ich viele Lieder von Jethro Tull doch muss ich zugeben: es fällt mir nicht immer leicht, auf Anhieb zu sagen, welche Passage nun von der Band und welche Barre stammt. Wobei diese Aussage als Qualitätsmerkmal verstanden werden kann und darf. Das sehr ansprechend gestaltete Booklet hilft im Übrigen weiter, die Autorenfrage zu klären. Im Booklet werden die beteiligten Musiker genannt, unter anderem der Bassist Jonathan Noyce, der ja viele Jahre Mitglied von Jethro Tull war. Alle Beteiligten musizieren auf dem höchsten technischen und musikalischen Niveau. Martin Barre spielt übrigens auch mal wieder die Flöte.
Insgesamt ist die Liedersammmlung auf der CD eine gelungene Mischung aus akustisch und elektrisch eingespielter Instrumentalmusik. Tempo und Dynamik sorgen für Abwechslung und zu jedem Zeitpunkt sind die Arrangements ausgesprochen geschmackvoll.
Mein (derzeitiger) Favorit auf der CD ist „Lament of the spalpeen/martin’s jig/hymn 43“. Natürlich will ich nicht alles verraten, doch so viel sei gesagt: der Spannungsbogen ist brillant und die Gitarrenpassagen ebenso hervorragend wie die der Flöte. Der Sänger Dan Crisp singt den Abschnitt „Hymn 43“ derart gut, dass ich mir eine Konzertreihe mit meinen Lieblingsstücken von Jethro Tull wünsche – mit dieser Band und diesem Sänger. Okay, Herr Anderson dürfte auch seine Flötentöne einbringen.
Mein Fazit: eine wunderbare CD, die die herausragende Bedeutung von Martin Barre für Jethro Tull unterstreicht.
PS: Martin Barre hätte sicherlich wertvolle Beiträge zu „Thick as a brick, 2“ leisten können.
PPS: Ob die Band Jethro Tull noch existiert? Das ist nicht ganz klar (vielleicht niemandem). Freuen wir uns daher einfach an dem, was ist.