Die Gezeiten. Jeder lernt in der Schule von Ebbe und Flut. Manche merken sich auch, wie sie entstehen. Jene, die nicht am Mittelmeer oder an der Ostsee sondern beispielsweise am Atlantik oder der Nordseeküste ihren Urlaub verbringen, haben die Gezeiten auch schon beobachtet. Dieser Artikel beschreibt einen extremen Fall von Ebbe und Flut
(großes Bild, Wikipedia-Link)
Meine Frau und ich hatten dieses Jahr das Glück, einen wunderschönen Flecken Erde mit sehr sympathischen Menschen und einer grandiosen Natur zu besuchen: Jersey, die größte der Kanalinseln. Wobei, groß. Mit gut 100 km2 ist sie etwa so groß wie Sylt und wiederum kaum größer als das Stadtgebiet Wetzlars. Aber darauf kommt es ja nicht an.
Ein spannender Punkt an dieser Insel ist der Gezeitenhub. Der kleinste Hub beträgt schlappe 7 m (in Worten: sieben Meter), der größte liegt bei 12 m! In der Praxis bedeutet dies u.a., dass man:
- bei Ebbe auf einem Sandstrand spazieren kann, der bei Flut mehr als mannshoch unter Wasser steht
- dem Wasser beim Steigen und Fallen zuschauen kann.
Und letzteres sollte der geneigte Wanderer gerade beim Gang über den Causeway zum Leuchtturm von Corbiere tun (vgl. Bild oben). Der Leuchtturm steht auf einer kleinen vorgelagerten Felseninsel und ist über einen Asphaltweg zu Fuß erreichbar, dem so genannten Causeway. Auf diesem Weg sind schon mehrere Menschen gestorben, weil sie die herannahende Flut unterschätzt haben und in den Wassermassen ertranken.
Wie kann das sein?
Als naturwissenschaftlich vorgeschädigte Betrachter der Szene stellte ich die nachfolgenden Überlegungen an.
0) Die einfachste Überlegung ist, eine mittlere Steiggeschwindigkeit anzunehmen: Nehmen wir an, es vergehen 6,5 Stunden zwischen Ebbe und Flut, ergibt das etwa 3 cm/min im Mittel. Schon sehr gefährlich.
Folgender verfeinerter Gedankengang schloss sich an:
1) Die Gezeiten folgen wahrscheinlich einem relativ komplizierten zeitlichen Verlauf. Da es aber ein periodischer Verlauf ist, ist ein sinusartiger Verlauf vermutlich eine brauchbare Näherung:
http://www.asterythms.net/bilder/2010/20100703f1.gif
Dabei ist A die Amplitude, also der halbe Höhenunterschied zwischen Ebbe und Flut. Der Faktor k ergibt sich aus der Überlegung, dass die Periode ja dem zeitlichen Abstand von Ebbe und Flut entspricht, also etwa wie:
2) Den Wanderer interessiert ja insbesondere, wie schnell das Wasser steigt, denn daran liegt ja die Gefahr. Diese lässt sich elegant durch Ableiten bestimmen:
3) Bewegen wir uns im Bereich der maximalen Geschwindigkeit, ist der Consinusfaktor etwa eins und wir finden:
Ausrechnen liefert dann:
Das bedeutet, das Meer steigt schlimmstenfalls mit etwa 5 cm pro Minute an!
Nehmen wir an, ein Wandersmann ist mit 6 km/h unterwegs, also 100 m/min. Der Weg ist nach Abschätzung mit Google-Maps 400 m lang. In diesen vier Minuten schafft es das Meer aber, 20 cm zu steigen. Wenn der Wanderer also auf der Insel ist und das Meer den Causeway erreichen sieht, ist es zu spät, loszulaufen – er wird Jersey nicht mehr erreichen!
Wie gesagt, es sind schon Menschen gestorben, weil sie diese Überlegung nicht angestellt haben.
Anm.: der ein oder andere Leser mag eine schnellere Lösung finden; mir kam eben diese hier in den Sinn.
Mir gefällt dein Schlußsatz:
“der ein oder andere Leser mag eine schnellere Lösung finden; mir kam eben diese hier in den Sinn.”
Die schnellere Lösung wäre im Kontext dann ja, die 400m zu rennen 🙂
Ich weiß nicht, wie stark die Strömung da ist, aber hier in Arizona wird immer wieder eindringlich davor gewarnt, sog. Washes zu betreten (gilt für Fußgänger ebenso wie für Automobilisten). Es heißt, bei 15cm Wassertiefe verliert man die Kontrolle über das Fahrzeug. Für Idioten hat man das Stupid Motorists Law eingeführt. Wer einen Wash betritt und geborgen werden muß, wird mit Geldstrafe belegt, und zwar ordentlich.
Nun habe ich auch mal ein wenig (eher dillatantisch) nachgerechnet, bitte verbessern, wenn ich was falsch gemacht haben sollte.
Ich nehme einen Durchmesser eines Beines mit 8cm an und die Wassertiefe mit besagten 15cm (also 3 Minuten nach deiner Rechnung). Das ergibt eine projizierte Fläche von etwa 0,02 m² und für beide Beine etwa 0,04 m². Nehme ich nun weiterhin an, dass die Geschwindigkeit, mit welcher das Wasser um die Beine fließt, 5 km/h beträgt (also gemächliche 1,4 m/s), dann lastet jede Sekunde durch die spezifische Dichte des Wassers eine Masse von etwa 53 kg auf die untere Beinpartie (ich weiß, da habe ich die Physik vergewaltigt, aber ich bin ja Ingenieur und kein Physiker, also darf ich das :-). Ist das Wasser 10 km/h “schnell”, dann sind es schon über 100 kg. Auch bei meiner Masse denke ich, dass ich keine Chance hätte, dem standzuhalten.
Die Rechnung ist natürlich auch stark vereinfacht. Eigentlich müsste man noch die Geschwindigkeit des Fußgängers in Betracht ziehen, den cw-Wert der Beine mit einrechnen und vermutlich habe ich der Dynamik auch nicht genug Rechnung gezollt. Aber als grobe Abschätzung reicht es um zu sehen, dass man besser die Hände (oder besser gesagt die Füße) von schnell ansteigenden Fluten lässt. Eleganter wäre es, einen permanenten Druck auszurechnen, aber wer kann schon was damit anfangen, wenn du rausbekommst, dass der Druck 13 kPa beträgt…
Das Schöne am Überschlagsrechnen ist ja, dass man Vereinfachungen treffen kann und trotzdem zu anschaulichen Ergebnissen kommt. Ich erinnere mich gerne noch ans Studium. Da haben wir den Menschen mit 1 Meter mal 1 Meter mal 1 Meter und einem Gewicht von 100 kg abgeschätzt 🙂
Ich denke, das mit dem Fließen kommt bei dem Corbiereproblem noch erschwerend hinzu, denn das Meer kann schon ordentlich in Bewegung kommen.
Zum “schneller Laufen”: ein sehr guter 400m-Läufer braucht 44 Sekunden – aber ohne nasse Füße!
Ich versuche mir gerade zu überlegen, wie schnell so ein Gebirgsbach fließt, in dem ich schon gestanden habe …
Test. Eins, zwei, drei Sprechprobe.